Ein gewundener Pfad nach oben quer durch den Wuppertaler Skulpturenpark, dann erst öffnet sich der Blick in ein Universum aus Linien, eingebettet in einen lichtdurchfluteten Raum, dessen Glas den Blick selbst weit ins Gelände schweben lässt und ihn dann doch an gebogenen metallischen Stangen aufhält. Dem Bildhauer Otto Boll geht es dabei um „Begegnung mit einem Gegenüber im Raum, die körperliche Erfahrung des skulpturalen Gegenstandes.“ Er hat sich dreidimensional manifestierende Linien in den Raum installiert, die zwangsläufig ein Verhalten provozieren und eine Auseinandersetzung mit der Örtlichkeit selbst und der ihn umgebenden Fläche einfordern. All das inmitten einer grünen Waldlandschaft.
Ein sechs Meter langer Stahlstift, der sich an beiden Enden harmonisch wie ein Speer verjüngt, hängt vor der einzigen weißen Wand im Raum. Aus der Entfernung scheint er überhaupt nicht zu existieren, vielmehr hat man das Gefühl, dass ein lanzettförmiger Schnitt durch den Beton geführt wurde. Die sofort an Lucio Fontana erinnernde Optik wird durch die enorme Schmalheit der Skulptur noch verstärkt. Der 1952 in Issum bei Geldern geborene Otto Boll studierte bis 1980 an der Abteilung für Kunsterzieher Münster und der Kunstakademie Düsseldorf bei dem Bildhauer Ernst Hermanns. 1980 erhält er den Caspar-von-Zumbusch-Preis und danach das Karl Schmidt-Rottluff Stipendium. Trotz seiner internationalen Erfolge ist er immer noch ein Geheimtipp unter den Bildhauern und sehr bodenständig, Boll lebt immer noch am Niederrhein. Seine Formensprache hat sich erst seit relativ kurzer Zeit aus der Höhe auf den Boden niedergelassen, sie bleiben offen in alle Richtungen.
Wie die im Raum aus der Mitte genommene Plastik Helix 7 (1/4) von 2017. Diese 4,50 Meter lange, 2,50 Meter hohe Schraube aus blankpoliertem Edelstahl friert nicht nur Bewegung ein, ihre Spannung kontaminiert gleichermaßen Rauminhalt und Fläche und sie impliziert dem Betrachter assoziative Möglichkeiten in alle Richtungen. Wobei der Versuch einer faktischen Interpretation bei Boll immer ins Leere laufen würde, denn der schnöden Erklärung entziehen sich die Werke seit jeher und machen deshalb die Auseinandersetzung mit ihnen interessant, wenn auch die Kargheit des visuellen Angebots manchen nach dem Aufstieg erschöpften Besucher an diesem Sonntagmittag offensichtlich verschreckt.
Aber der Künstler kann offensichtlich auch überdimensional denken. Ein kleines Modell in der dritten und jüngsten Ausstellungshalle im Skulpturenpark Waldfrieden, der von der Stiftung des britischen Sir Tony Cragg, bis 2013 auch Rektor der Kunstakademie Düsseldorf, zeigt dies. Inmitten geometrisch strahlenförmig angeordneter Wände steht eine H0-Eisenbahnfigur, obwohl sich die Wände zur Person hin verjüngen, würde dessen Wahrnehmung nur schwarze Striche um sich herum zeigen, wenn man nur darüber nachdenken würde. Ob der Besucher das bei Markus Lüpertz‘ „Paris ohne Arme“ im Park oder schon bei Jonathan Monks „Covered Motorbike“ vor dem Eingang gemacht hat, ich weiß es nicht, mich begeistert auch Otto Bolls irre langer Aluminium-Stahl-Winkel da in luftiger Höhe.
Otto Boll – Skulpturen | bis 22.9. | Skulpturenpark Waldfrieden | 0202 47 89 81 20
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