Gibt es mehr als nur eine klangliche Verbindung zwischen dem Namen des Stadtteils von Wuppertal und dem Wort Erbarmen? Friedrich Engels, berühmtester Sohn der Stadt, hatte mehr Erbarmen mit den geschundenen Arbeitern als mit seinem Vater, dem Fabrikbesitzer. Als der Revolutionär nach gescheiterter Revolution ins Londoner Exil reisen musste, blieb die soziale Ungerechtigkeit in seiner Heimat bestehen und mit ihr das Elend der Proleten. Andererseits wurden bahnbrechende Erfindungen gemacht, die nicht nur der Schwerindustrie zugute kamen. 1863 gründete sich in seiner Heimatstadt Barmen ein kleines Unternehmen, das sich neben der Herstellung von Farben und Lacken bald auf die Produktion von Medikamenten konzentrierte. Markenschlager von Friedrich Bayers Chemiewerk wurden das Schmerzmittel Aspirin und der Hustensaft Heroin. Während Heroin nach internationalem Druck 1931 nicht mehr von Bayer hergestellt wurde, ist Aspirin nach wie vor eines der weltweit erfolgreichsten Medikamente. Doch mit der Herstellung von Medikamenten allein war die Not breiter Massen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch nicht gelindert. Nicht jeder konnte sie bezahlen. Reichskanzler Otto von Bismarck, der ein paar Jahre zuvor mit den Sozialistengesetzen alle revolutionären Umtriebe im noch jungen Deutschen Reich unterbinden wollte, versuchte, mit seinen Sozialgesetzen jenen Umstürzlern den Boden zu entziehen. Der eiserne Reichskanzler gilt so ironischerweise als der Gründungsvater des Sozialstaates mit seinen Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherungen. 1884 gründete sich der „Kaufmännische Verein für Handlungsgehilfen in Barmen“, die sich später Barmer Ersatzkasse nannte. 1922 wurde als Tochtergesellschaft die private Krankenversicherung Barmenia gegründet, die sich inzwischen längst vom Mutterkonzern losgesagt hat und ein selbstständiges Unternehmen ist.
Philipp Missfelder erntete wütenden Protest, als er vorschlug, Oma und Opa ihre neuen Hüftegelenke selbst zahlen zu lassen
Wenn also in diesen Tagen bundesweit um die Zukunft des Gesundheitssystems gestritten wird, dann ist eines gewiss: Viele Protagonisten der Auseinandersetzung kommen aus Barmen. Die BEK-GEK als größte gesetzliche Krankenversicherung, die Barmenia als große private Krankenversicherung und der Bayer- Konzern als einer der weltweit größten Pharmaunternehmen. Ob deswegen aber erbarmungslose Ergebnisse auszuschließen sind? Die Diskussion über das Gesundheitssystem ist nicht neu. Aber erst vor fünf Jahren wurde es in seiner bestehenden Form grundsätzlich in Frage gestellt. Es war die Zeit, in der Politiker von CDU und FDP einen unbürokratischen und populären Staat forderten. Die Steuererklärung sollte auf einen Bierdeckel passen. Die Krankenkassenbeiträge sollten, für Arbeitgeber besonders günstig, nicht mehr einkommensabhängig berechnet werden. Das Wort „Kopfpauschale“ machte die Runde, erinnerte aber eher an Italo-Western als an gerechte Sozialpolitik. Diejenigen, die die gesetzlichen Krankenversicherungen schleifen wollten, erhielten bei den Wahlen vor fünf Jahren keine Mehrheit. Inzwischen gibt es zwar eine schwarzgelbe Bundesregierung, aber die Kopfpauschale ist trotzdem nicht durchsetzbar. Je mehr Anlauf der amtierende Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) nimmt, um sein Reformwerk durchzusetzen, umso größer ist die Beule, die er sich an dem betonharten Widerstand seiner Gegner zuzieht. Mit mindestens 11 Milliarden Euro ist in diesem Jahr zu rechnen. Nicht nur wegen des demographischen Wandels, sondern auch wegen der Lohneinbußen, verursacht durch die Wirtschafts- und Finanzkrise, sinken die Einnahmen der Krankenversicherer. Gleichzeitig verteuern sich die Leistungen. Bei den Arzthonoraren und Krankenhauskosten ist es schwierig, einheitlich den Rotstift anzusetzen. Manchem Facharzt geht es wirtschaftlich sehr gut. Ein Assistenzarzt und auch ein niedergelassener Allgemeinmediziner in ländlicher Region allerdings verdient wenig und arbeitet sehr viel. Anders verhält es sich mit der Pharmaindustrie. Nirgendwo auf der Welt sind Medikamente so teuer wie in Deutschland. Allen Versuchen, die Kosten hierfür zu begrenzen, wird von der Branche mit Tricksereien oder, noch schlimmer, mit Liebesentzug begegnet. Eine andere Form der Kostenersparnis wird für die Politiker deshalb immer attraktiver, die Leistungsbeschränkung. Vor Jahren, als vom Bundesvorsitzenden der Jungen Union Philipp Mißfelder der Vorschlag kam, Oma und Opa ihre neuen Hüftgelenke selbst zahlen zu lassen, erntete der Jungpolitiker aus Gelsenkirchen noch wütenden Protest. Durch den rasanten Fortschritt in der medizinischen Entwicklung wird die Frage nach der Bezahlbarkeit von Leben immer drängender. Schon jetzt gibt es in unserem Land eine Korrelation zwischen Lebenserwartung und Kontostand. Vielleicht sollten die Gesundheitspolitiker einmal ein Praktikum auf einer Intensivstation oder in einem Altenpflegeheim machen. Dann würde sich zumindest eine Einsicht selbst bei neoliberalen Parteivertretern durchsetzen können: Das letzte Hemd hat keine Taschen.
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Teil 2: Leitartikel – Opfer von Behandlungsfehlern werden alleine gelassen
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