Was geht wohl in einem Hohlkopf vor, dem geweissagt wird, dass er einem Herrscher gehören wird? Nein, es geht nicht um eine verletzte russische Seele, es geht um einen Feldherrn aus der alten Zeit, als Kriege noch mit Schwertern ausgefochten wurden und nicht mit stählernen Leoparden. Marcus Lobbes hat den Hohlraum von Macbeths Schädel von Robi Voigt auf die Wuppertaler Opernbühne bauen lassen, dort spielt ab sofort die blutige Tragödie von William Shakespeare. Hinter einer Plastikfolie, der Lebenssaft soll ja ordentlich spritzen und die Abonnenten in der Ersten Reihe ja nicht verprellt werden. Das war früher auch mal anders.
Zuerst kommt das Fressen … (falscher Autor). Dennoch, im Kopf des ollen Feldherrn befindet sich eine schicke, aber schlichte Einraumwohnung mit Küche, Diele, Bad und einem Flachbildschirm, den die Hexen auch als sprechenden Spiegel benutzen können. Das sechsköpfige Küchenpersonal im poppigen, knatschgelben Einheits-Outfit teilt sich gendergerecht die zahlreichen Rollen. Wer den Hennin (spitze Haube, hier mit Schleier) aufsetzte, der war eben Lady Macbeth, die treibende Kraft in der Küche. Ansonsten mussten die Zuschauer:innen bei den Gelbperücken ab und an aufpassen, wer gerade wer war, denn Marcus Lobbes hat die tragische Königsmord-Geschichte auf schier unglaubliche 85 Minuten gerafft und sich dabei weite inhaltliche Teile und Szenen weggespart, so dass im Kern des Schädels nur die machthungrige Ursache des ganzen mörderischen Übels extrahiert wurde.
Und das funktionierte für Kenner des Stoffs vorzüglich. Gerade ist das Sieger-Sauflied nach der Schlacht verklungen, haben die Hexen ihre doppelzüngige Prophezeiung im Shakespeareschen Original vom Band über einen batteriebetriebenen Kassettenrekorder lanciert, da geht es auch schon comichaft weiter in Macbeths Kopf: die Verführung zur Macht, der Mord am König im eigenen Haus, ein paar lustige Einwürfe und schon rollt der blutige Kopf von Herrscher Duncan über die grüngelbe Bühne, er wird „Running Gag“, wie der alte Rekorder, der immer royale Trompetenstöße liefert. Marcus Lobbes choreografiert überaus geschickt sein Ensemble durch Ein-Raum und Zeit, die Puristen vermissen natürlich den einen oder anderen Strang oder Figur (bei der Premiere gab es wieder diese typischen Oberlehrer-Buhs), aber er bleibt dramaturgisch immer in der ursächlichen Shakespeare-Spur.
Der Wahn bleibt nun das zentrale Thema. Lady Macbeth kämpft sich fürs Bankett durch die viel zu hoch hängenden Küchenschränke, hält die Zweifler im neuronalen Netzwerk auf Kurs: „Nur Kinder fürchten sich vor dem gemalten Teufel“, doch auch ihr Wahnsinn ist nicht mehr weit, schon schmiert sie das imaginäre, schier nicht entfernbare Blut von ihren Händen an die Rampen-Plastikwand. Als aus dem Off die letzte Szenenzahl ertönt, wartet natürlich jeder auf den Wald von Birnam und den letzten Waffengang von Duncan und Macbeth. Doch auch das findet natürlich im kranken Kopf des Tyrannen nicht statt, der erkennt, dass manchmal die Wahrheit lügt (das ist sehr nah am Heute), ein Paar Zimmerpflanzen werden hereingetragen, das Ensemble entschwindet langsam im rückwärtigen Nebel und dann ist der großartige „Graphic Novel-Evening“ auch schon vorbei.
Macbeth | So 30.10. 16 Uhr | Oper Wuppertal | 0202 563 76 66
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