Die tamilisch-britische Rapperin M.I.A. ist seit vier Alben mehr oder weniger explizit politisch. Mit „AIM“ widmet sich die kosmopolitische Weltbürgerin nun den Flüchtlingsströmen. Wenn sie ihren scharfkantig-spröden tribalistischen Trap-Sound mit Arabesken auspackt, klingen ihre Tracks nervös, dringlich und mitreißend wie immer. Allerdings neigt sie auf „AIM“ auch zum Song, und das gelingt ihr nicht so gut. Singend klingt sie weniger überzeugend und Autotune hilft dann auch nicht weiter (Universal). Mit seinem Weirdo-Image platziert sich der Rapper Danny Brown zwischen Busta Rhymes und Dizzee Rascal. Mit seinem vierten Album „Atrocity Exhibition“ ist er bei Warp gelandet und verabschiedet sich von fetten Trap-Sounds. Hier klingt er sperriger – zwischen Anticon und Def Jux. Die Klangbreite ist erstaunlich. Irgendwo zwischen Helge Schneider, Jonathan Meese und der experimentellen NDW muss man K. Ronaldo alias Kristus Ronaldo wohl verorten. Der „größere Bruder“ des Wiener Cloud-Rap-Gottes Yung Hurn („Nein“, „Opernsänger“) hat das Regelwerk des Rap-Business weit hinter sich gelassen und mausert sich zum deutschsprachigen Dean Blunt. Das wie üblich gegen freiwillige Spende als Download erhältliche Mixtape „I Wanted to Kill Myself But Today Is My Mothers Birthday“ des dauerbedröhnten Messias verbindet feine Elektronik-Beats mit grenzdebilen Lyrics in Endlosschlaufe. „Mir geht’s gut“, „Wer bist Du?“, „Brille auf“, „Ich spuck“ heißen die Hits. Ein verstörender psychotischer Trip allererster Klasse!
Mit seinem neuen Album „Skeleton Tree“ trauert Nick Cave um seinen 2015 während eines LSD-Trips tödlich gestürzten Sohn. Das ist berührend, erschütternd und – auch wenn sich das vielleicht komisch anhört – wunderschön. Das Album fällt nicht durch seine Düsternis aus dem Rahmen – das konnte Cave, geleitet von seinen inneren Dämonen und der eigenen Drogensucht schon immer – sondern durch eine unvollkommene Zartheit, der er sich hier mit seinen Bad Seeds öffnet. Der zur Veröffentlichung im Kino gezeigte Film „One More Time with Feeling“ von Andrew Dominik begleitet die Entstehung des Albums (Bad Seed Ltd.). Parallel zu Ron Howards Kino-Doku „Eight Days a Week“ über die „Touring Years“ der Beatles erscheint ein von George Martins Sohn Giles neu gemischter Zusammenschnitt ihrer Konzerte „Live at the Hollywood Bowl“ in den Jahren '64/'65, bei denen erstmals nicht das Gekreische der Fans, sondern die Musik im Vordergrund steht (Apple).
Jens Balzer erstellt mit seinem Buch „Pop“ ein „Panorama der Gegenwart“ – vom Mainstream zum Underground und zurück. Mit dabei sind – Achtung: die Strokes und Libertines, Amy Winehouse und Adele, Devendra Banhart und die Animal Collective, Sunn O))), Dubstep und J-Pop, Joanna Newsom und Antony Hegarty, Justin Bieber, Rihanna, Beyoncé und Lady Gaga, FKA twigs. Skrillex und Flying Lotus, Helene Fischer, Rammstein, Freiwild und Bushido sowie Kanye West und Kendrick Lamar. Ganz schöne Packung, ganz schöne Spannbreite. Balzer nähert sich immer phänomenologisch interessiert. Seine darauf fußenden fantasievollen Analogien, Vergleiche und Einordnungen zu lesen, macht viel Freude, egal, ob man nun zustimmt oder nicht. Vielleicht das nicht minder kluge Gegenstück zu Diedrich Diederichsens „Über Popmusik“ in einer sinnlicheren, weniger akademischen Variante (Rowohlt).
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