Da stehen die acht Homunkuli vor der Wand aus Blut, eine Mauer mit der Assoziation von Hermann Nitschs Orgien-Mysterien-Theater – und ein Fest des Schlachtens wird es allemal bei Shakespeares „Richard III.“, diesem verkrüppelten Ungetüm aus leicht zuerdachter britischer Historie, verliebt nur in sich selbst und grenzenlose Macht. Ein Intrigenschmied mit dem Mythos Mimes, der alle Familienmitglieder jedweden Alters meuchelt um endlich auf dem Thron zu sitzen.
Und alle werden zittern vor Angst. Dunkel und düster drohend inszeniert Henri Hüster im Wuppertaler Theater das Historiendrama. Mit Engelsgarten hat das nichts mehr zu tun. Alle verrenken sich um eigene Ziele, imitieren den Bösewicht, können nicht anders, halten ihre gekünstelten Posen ab und an fast bis zur Erschöpfung aufrecht, eine grandiose Choreografie lenkt die Abläufe und Grausamkeiten bei einem unentwegt grollenden Soundtrack, der Schlachtenlärm und hilflose Schreie wie Nebel über den Raum bläst. Denn aus dem Raum, oft aus den Zuschauerreihen treten die Protagonisten ins Spiel, mit überdrehter Theatralik oder mit wilden Grimassen versuchen sie die eigenen körperlichen Ticks, die eigenen Ansprüche zu verbergen. Doch der Aufstieg des einen (neuen) Usurpator scheint unaufhaltsam, er ist der Schamloseste, er ist der Schlauste. Wie sagt es Ekkehart Krippendorff im Programmheft: „Der Herzog von Gloucester ist Fleisch von ihrem Fleisch und in jeden seiner Mitspieler steckt ein kleiner Richard III.“ Und wenn man das Streben und Intrigieren auf der Bühne punktiert betrachtet, die Inszenierung ist eine Performance der Verherrlichung von Macht, kein durchdesigntes Historienspiel à la Game of Thrones – wenn auch der Duke of Buckingham dies oft mittransportiert. Lena Vogt gibt ihm etwas verschlossen natternhaftes, aufrichtig böse für eine große Belohnung, die sich allerdings – wie sollte es auch anders sein – in eine Hinrichtung verwandelt. Denn was interessiert einen Despoten sein Geschwätz von gestern?
In der Pause heißt es dann für alle Schauspieler öffentliches „Schrubben für den Durchblick“: Ein breiter weißer Streifen teilt anschließend die Orgienwand. Die Handlung strebt dem Finale zu. Immer noch wandeln die Geister rechts und links durchs Publikum. Mirko Greza orakelt als düstere Königin Margaret das Ende herbei. Scheinwerfer aus dem Spalt blenden die Zuschauer-Mitte. Der wahre (oder der echte?) Gloster ist am Ziel, doch solange die jüngsten Thronerben noch leben, muss weitergemeuchelt werden. Und gedungene Mörder lassen sich in der Zeit locker finden, seien es schwäbische Dumpfbacken oder kalte Gemüter. Und Thomas Braus zelebriert den „Dreckskerl“ wunderbar wie eine gebrechliche Diva durch die Spalten und Risse im Königreich, die durch die verschobenen Wände sichtbar werden. Am Schluss in der Schlacht versucht er noch sich im Getriebe des Staates zu verstecken. Doch fast gekreuzigt hängt er da und schreit nach dem berühmten Pferd zur Flucht. Nix da. Licht aus. Feierabend. Andere Richards werden nun die Löcher in der Macht füllen, die das Ekel gerissen hat. Ist doch klar. Richards gab und gibt es überall. Und Missvergnügen an jeder Machtverteilung auch, wenn alle Weltanschauungen ins Wanken geraten sind und nur noch Plattitüden die Welt regieren. Ein großartiger performativer Abend.
Richard III | R: Henri Hüster | Fr 31.5. 19.30 Uhr, So 16.6., So 23.6. je 16 Uhr | Theater am Engelsgarten | www.schauspiel-wuppertal.de
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