Die erste missglückte Kopulation findet in einem braunen Erdloch statt. Und schon sind wir mitten drin im Drang, der Opfer und Täter generiert, der vom Trieb gesteuert auch schon mal Wunderliches auf eine Theaterbühne hebt. Das schier zeitlose Stück „Der Drang“ von Franz Xaver Kroetz im Wuppertaler Theater am Engelsgarten zelebriert das Leben in der Friedhofsgärtnerei auf einer dünnen Torfschicht mit vier Löchern, aus und in denen die Protagonisten mit ihren mehr oder minder triebhaften Gefühlen wie Jack in the Box das lustige Rein-Raus-Spiel pflegen. Und auf den Lippen ein Liedchen von Johannes Brahms (1833-1897): „Daunten im Tale, Läuft's Wasser so trüb, Und i kann dir's net sagen, I hab' di so lieb.“
Mächtig bajuwarisch kimmt des Stickerl schon rüber und Regisseur Peter Wallgram hat es im Großen und Ganzen beim volkstümlichen Ur-Fritz belassen, ist dem hier oft scheinbar systemimmanenten Klamauk nicht auf den Leim gegangen, der die eigentlich heikle Thematik um Krankheit, Lust und Außenseitertum in anderen Inszenierungen oft aus der Bahn kippt, denn hier gibt es am Schluss keine Gewinner, sondern nur Opfer oder besser Verlierer.
Otto (Stefan Walz) hat die erste missglückte Kopulation mit Ehefrau Hilde (Maresa Lühle) beendet und muss maulend zur Selbstbefriedigung greifen, da schnellt auch schon der Schachtelteufel Fritz aus dem dritten Loch. Der Exhibitionist kommt aus dem Gefängnis, muss ständig Psychopharmaka schlucken und ist dankbar als gärtnerische Hilfskraft bei Schwester und Schwager unterzukommen. Der Szenerie auf Torf (Bühne und Kostüme:Sandra Linde)reichen eine milchige Häuserwand und Garten-Gewächshaus-Friedhof mit leichter Schräge und wenigen Requisiten. Die marionettenhafte Choreografie der Leiber aber, das auf und ab und auch die Kostümierung in ausgestopfter Kleidung mit aufgenähten Geschlechtsmerkmalen machen den Abend sehr vergnüglich – die vier Schauspielerinnen und Schauspieler geben dafür teils halsbrecherisch alles.
Fritz unter Dauerdrogen, die den Trieb lahmlegen, hat nicht nur die notgeile Floristin Mitzi (Philippine Pachl) am Hals, auch Schwager Otto interessiert sich für seine scheinbar endlose Lust, wenn er keine Pillen nehmen würde. Fritz (grandios demütig: Konstantin Rickert) ist das erste Opfer, wenn man die marode Ehe des Gärtnerehepaares mal weglässt. Fritz wehrt sich anfangs noch, versucht sich zu rechtfertigen, zu entschuldigen, doch das Stigma des Triebtäters wird der Burschi in der Trachtenhose nicht loswerden: Er wird erpresst, gedemütigt und gequält, dass es für die anderen eine Lust ist – als Notlüge mutiert er sogar zum Sadisten. Das Leben hinterm Friedhof eskaliert, als Otto Mitzi zur lustschreienden Konkubine macht und mehrfach im vierten Bodenloch penetriert, sehr zum Leidwesen der abgesägten Gattin, die auf Rache sinnt – schließlich hat Gott ein wachsames Auge. Doch was er sähe, wäre nur das zivilisatorische Ende der beteiligten Personen und vielleicht einen Mord, denn Hilde verprügelt Mitzi und stößt sie in ein offenes Grab, Otto entdeckt scheinbar neue Gefühle für seine nackte Gattin, die ihm nun wieder willig den Hintern hinhält. Mitzi überlebt, Fritz flüchtet und so kehrt die Ordnung wieder ein in eine marode Welt, die nur scheinbar bajuwarisch ist.
„Der Drang“ | R: Peter Wallgram | Sa 4.5. 19.30 Uhr, So 5.5. 16 Uhr, Fr 7.6. 19.30 Uhr | Theater am Engelsgarten | 0202 563 76 66
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