„Geierwally – ist das nicht eine Heimatfilm-Schnulze?“ – so dürfte der Großteil befragter Kulturkundiger reagieren. In der Tat, die fiktive Figur ist Zentrum zahlreicher Filme, Romane, und hat tatsächlich existiert. Anna Stainer-Knittel war eine sehr aktive Malerin aus Tirol, die in München als eine der ersten Frauen Kunst studiert hatte, dann aber in ihre Heimat zurückgekehrt ist und dort von ihrer Malerei leben konnte. Überliefert ist ihre Geschichte: Eine mutige Frau, die sich an einer steilen Bergwand abseilen lies, um ein Geiernest auszunehmen, denn die Vögel rissen viele Lämmer, die Bauern versuchten sie daher zu reduzieren. Ihre Tat – die Männer trauten sich nicht – animierte eine Illustrierte zu einer Zeichnung der Heldin, wo sie zu Annas Unmut nur von hinten abgebildet war. Daher griff sie selbst zu Pinsel und Farbe und schuf ihr bekanntes Selbstportrait, wo sie einen geschlüpften Adler in ihrem Rucksack verstaut. Wie kommt das seriöse Solinger Kunstmuseum zu der Ausstellung „Die Geierwally und der Berg in der zeitgenössischen Kunst“? Dr. Nina Stainer, Kunsthistorikerin und Enkelin der Malerin, hat eine wissenschaftliche Monografie über ihre Vorfahrin geschrieben und im Museum Solingen gearbeitet; so geriet Stainer-Knittel in den Fokus der stellvertretenden Museumschefin Gisela Elbracht-Iglhaut, welche die Ausstellung zusammen mit Nina kuratiert hat. Die notwendigen Finanzen kamen dann von Thomas Busch (Fa. Walbusch), der sich die Ausstellung zum 85. Geburtstag schenkte.
Nun ist das Werk von Anna kunsthistorisch eher bescheiden: hübsche, aber brave Landschaftsbilder mit Bergen, Blumen und Portraits – Biedermeier halt. Aber die erstmalige Präsentation der Werke der klugen Frau überhaupt. Und mitnichten ein Zugpferd für die fünf etablierten Gegenwarts-Künstler, die den eigentlichen Kern der Ausstellung bilden; sie alle haben einmal in dem Museum ausgestellt. Thema ist der Berg und die von ihm ausgehende Faszination in unterschiedlichen Darstellungen. Sven Drühl (*1968) hat auf einem riesigen Triptychon Landschafts-Linien mit Silikon nachgezogen und alles tiefschwarz angemalt. Rainer Eisch (*1967) hat mit seiner Trickkamera Landschaften simuliert, per Endlos-16mm-Film fliegt man über eine Scheingebirgswelt. Birgit Jensen (*1957) zeigt Berge in sogenannter Op-Art, mit einer Vermischung aus optischen Effekten und Rasterpunkten. Die Werke des Landschaftsmalers William Turner sind Vorbild für Hiroyuki Masuyma, der aus Hunderten Fotografien eindrucksvolle, so nicht existierende Landschaften konstruiert und auf großen Leuchtplatten präsentiert. Und Heike Weber (*1962) zeigt ein riesiges Berg-Panorama mit roter Wäscheleine und hunderten von Nägeln in der Wand als Fixpunkte. Ein Unikat, welches nur zerstört werden kann.
Die fünf avantgardistischen, starken Werke schieben die Bilder der Anna Stainer-Knittel schon in eine leicht naive Klischee- und Kitsch-Ecke, wo sie nur schwer gegenhalten kann. Aber dennoch ist der Kontrast zu ihr durchaus reizvoll, vor allem hinsichtlich ihrer beeindruckenden Lebensleistung mit vier Kindern, einer Malschule für Damen und zahlreichen Bildern für den Lebensunterhalt.
Geierwally und der Berg in der zeitgenössischen Kunst | bis 23.6. | Kunstmuseum Solingen | www.kunstmuseum-solingen.de
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