Seit es die grafische Notation gibt, ist Stille in der Musik eindeutig fixiert – von den Neumen der Gregorianik über die Modalnotation, die französische Notation der Ars Nova, die italienische Notation des Trecento, die manierierte Notation, die weiße Mensuralnotation bis zur heutigen Standard-Notation und weitere Notationsformen des 20. Jahrhunderts. Die geläufigsten Symbole dafür sind die Fermate und ein fetter Balken innerhalb eines Takts mit einer Zahl darüber, die die Dauer des Tacet (Schweigen) vorschreibt. Diese mal kurzen, mal langen Pausen sollen Spannungen erzeugen. Auch im täglichen Leben wird vielen Menschen Stille wichtiger, zumal man vielerorts, etwa in Kaufhäusern, ständig mit Musik berieselt wird.
Ganz im Gegenteil
Mit Stille beschäftigt sich „Sound Of Silence“, das jüngste Projekt des Chorwerks Ruhr. Damit ist das 21-köpfige Vokalensemble vor ein zahlreich erschienenes Publikum in die Immanuelskirche gekommen. Und nein, es wird nicht Stille zelebriert, indem in dem Sakralbau nichts zu hören wäre – ganz im Gegenteil. Man hat den 1972 in München geborenen Komponisten und Pianisten des zeitgenössischen Jazz, Marc Schmolling, hinzugezogen, der sich in mancher Hinsicht mit Stille auseinandergesetzt hat. Zwei Texte hat er vertont: „Little Gardens“ von seiner Mutter Inka Machulková und „Schweigen“ von Geork Trakl. Simon & Garfunkels Hit „The Sound of Silence“ hat ihm Anstöße zur Komposition „Darkness, My Old Friend“ gegeben, benannt nach einer Textzeile des Hits. Auch setzte er sich mit dem japanischen Haiku auseinander, was in ein Werk mit diesem Namen mündete.
Komplex, ohne Bezüge zu Dur und Moll, ist die Musiksprache. Polyphone Strukturen, Klangebenen, Vokalisen wie Gräuschhaftes oder Zischeln seitens des Chors sind ebenso verarbeitet wie improvisatorische Passagen und Kommunikation zwischen Instrumenten und Stimmen.
Schmollings Musik korrespondiert mit einer Auswahl an gefühlsbetonten Madrigalen von Carlo Gesualdo (1566-1613) und Claudio Monteverdi (1567-1643), beide berühmte Vertreter der Musik der italienischen Spätrenaissance und des beginnenden Frühbarocks. Diese Kombination von Altem und Neuem ist absolut stimmig. Dafür sprechen unter anderem viele nahtlose Übergänge von den selten aufgeführten Werke a cappella zu Schmollings freitonaler Musiksprache und umgekehrt. Hinzu kommt beste Harmonie zwischen dem professionellen Kammerchor und den fünf exzellenten Instrumentalen: Schmolling am Flügel, Tom Arthurs (Trompete), Christian Weidner (Saxophon), Biliana Voutchkova (Geige) und Antonio Borghini (Kontrabass). Sie werden ihrem ausgezeichneten Ruf als Spezialisten für zeitgenössische Musik gerecht.
Weder Dur noch Moll
Unter der Leitung von Florian Helgath, künstlerischer Leiter des Chorwerks Ruhr erklingen die Madrigale wie aus einem Guss. Selbst die ihnen innewohnende Ausdruckssteigerung und Mehrstimmigkeit kommen hochbrillant von der Bühne – lupenreine Unisonogesänge, bei denen unter anderem ein von allen Choristen gesungener gleicher Ton intonatiosrein ohne Schwankung daherkommt. Zwischendurch auch ohne Helgath verstehen sich Sänger und Instrumentalisten kongenial, in den komponierten Stücken und den freien Improvisationen interagieren sie fabelhaft.
Während der rund 70-minütigen Veranstaltung bricht zu keiner Zeit die den Raum füllende hohe Spannung ab. Folglich ist es im Auditorium mucksmäuschenstill. Doch ist der letzte Tonverklungen, gibt es frenetischen Beifall, wofür sich Chor und Instrumentalisten mit der Wiederholung von „Little Gardens“ bedanken.
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