Kein glanzvoller Pomp, kein populäres Klavierkonzert als Kehraus bietet das Abschlusskonzert des diesjährigen Klavier-Festivals Ruhr. Stattdessen steht Kammermusik auf dem Programm. Diese Gattung mit ihrer intimen Atmosphäre, die nur überschaubaren Musikern die Gelegenheit gibt, in Kammermusikräumen musikalisch miteinander zu kommunizieren, lockt in der Regel eher viel weniger Musikfreunde an, als wenn es um orchestrale Werke geht. An diesem Abend wird man eines Besseren belehrt, ist doch das Parkett des Großen Saals der Historischen Stadthalle mit seinen über 1.100 Plätzen ausverkauft. Hinzu kommt, dass keine populären Kompositionen aus Federn wie Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven auf den Notenpulten liegen, sondern zwei der drei Klavierquartette von Johannes Brahms, die nicht jeden Tag live zu erleben sind. Und um es gleich vorwegzunehmen: Das Publikum wird nicht enttäuscht. Denn es kommt zu einem großartigen Hörerlebnis.
Neue Wege
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts war der Höhepunkt der Kammermusik überschritten. Sie verlor kompositorisch an Bedeutung. Unberührt blieb hingegen weiterhin die zu diesem Genre gehörende in Gesellschaftskreisen beliebte Gebrauchsmusik. An ihre Stelle trat die musikalische Entwicklung der Sinfonik und der Sinfonischen Dichtung. Johannes Brahms jedoch hielt an diesem Musikstil fest. Entscheidend für sein kammermusikalisches Schaffen war, die Kompositionsästhetik seiner erwähnten Vorgänger auf höchstem Niveau realisiert und weiterentwickelt zu haben. Seine ersten beiden Klavierquartette, die er in seinen frühen Zwanzigern schuf, zeugen bereits von seiner Meisterschaft im Umgang mit anspruchsvollen Kompositionstechniken und seinem Betreten neuer Wege.
Großdimensioniert ist das Erste in g-Mol, op. 25. Der Eröffnungssatz sinfonischen Ausmaßes ist das gewichtigste kammermusikalische Stück, das Brahms je geschrieben hat. Mehrere thematische Hauptgedanken unterschiedlichen Charakters werden großzügig entfaltet und weiterentwickelt. Das sich anschließende „Intermezzo“ bietet zu durchlaufenden Achtelbewegungen kleingliedrige melodische Gebilde. Markig-gebunden ist der Gesang im Andante, das im Mittelteil einen marschähnlichen Wesenszug annimmt. Richtig ausgelassen geht es schließlich im Finale mit einem ungarischen Potpourri unbeschwerter Melodien zu. Ganz anders sieht es mit dem direkt anschließend verfassten zweiten Klavierquartett in A-Dur, op. 26 aus. Es ist im Ton zurückhaltender, anfangs mit dramatischen Akzenten, dann ruhig-schreitend, schließlich tänzerisch.
Wie eine gewachsene Formation
Noch nie haben Pianist Alexandre Kantorow, der für den kurz zuvor erkrankten Renaud Capuçon eingesprungene Geiger Alexander Sitkovetsky, Bratschist Lawrence Power und Cellist Victor Julien-Laferrière als Quartett zusammengespielt. Auf der Bühne befindet sich also keine über viele Jahre gewachsene Formation. Doch die vier Musiker harmonieren bei diesen beiden Werken derart, als würde es sich um ein solches Ensemble handeln. Glasklar werden die streckenweise komplexen mehrstimmigen Strukturen und deren Entwicklungen zu Gehör gebracht. Deutlich, dynamisch fein abgestuft werden Haupt-, Neben- und Füllstimmen nachgezeichnet. Einhergehend mit großen musikalischen Spannungsbögen über sehr ausgedehnte Passagen kommt jedes in den beiden Partituren steckende kleinste Detail mustergültig zur Geltung. Doch damit nicht genug: Der Weisheit, dass Musik die universelle emotionale Sprache überhaupt ist, wird voll und ganz Rechnung getragen. Es sind die auch mit Dämpfer gespielten sonoren Streicher- und facettenreichen Klavierklänge, der Zugang zur großen Palette an Gefühlswelten, die selbst bei Pianostellen mit festem Zugriff packend von der Bühne kommen. Kurzum: Genau so geht Kammermusik, wie man sie sich zu hören wünscht.
Zu Recht zeigt sich das Publikum begeistert. Dafür bedankt sich das Quartett mit dem Andante aus dem dritten Klavierquartett in c-Moll, op. 60 von Brahms. Danach ebben die Beifallsbekundungen erst ab, als die vier Musiker endgültig die Bühne verlassen.
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