Im Interview spricht Dramaturg Sven Schlötcke über die Theaterinsel „Geheimnis 1“ am Mülheimer Theater an der Ruhr. Zentrale Programmpunkte der mehrwöchigen Veranstaltungsreihe sind „König Ödipus“ und „Bock“, ein Stück über männliche Sexualität.
engels: Sven, die neue Theaterinsel am Theater an der Ruhr ist ein „Geheimnis“. Ist es das Geheimnis samtweicher Haut oder der Erweckung Barbarossas am Kyffhäuser?
Sven Schlötcke: Unser Thema ist kein Geheimnis mehr. Es lautet nur Geheimnis. Die Art deiner Frage verweist aber auf das grundsätzlich Spielerische im Umgang mit den Themen, um das es uns geht bei dieser besonderen Programmarbeit. Wir versuchen thematische Tiefenbohrungen, die im vielfältigen Gesamtprogramm immer auch selbstironische und humorvolle Perspektiven eröffnen. Warum man 2024 auf das Thema „Geheimnis“ kommt, liegt ja ziemlich auf der Hand: Warum halten wir auf privater und gesellschaftlich-politischer Ebene Dinge geheim? Was haben wir zu verbergen oder zu vertuschen? Wann ist das Nicht-Veröffentlichen notwendig und gesund? Müssen wir uns in einer digitalen Daten- und Manipulationsgesellschaft nicht sogar unbedingt schützen vor totaler Durchschaubarkeit?
Andererseits braucht Demokratie eine offene Gesellschaft … Bei „Geheimnis 1“ im August und September eröffnen die beiden zentralen Theaterprojekte, der antike Urstoff „König Ödipus“ von Sophokles/Schimmelpfennig und unser Projekt nach dem Buch „Bock: Männer und Sex“ von Katja Lewina zwei scheinbar sehr unterschiedliche Perspektiven auf das Thema: eine persönliche, intime und eine eher politische, gesellschaftliche. Aber beide Projekte verbindet die alte These, dass das Private immer auch politisch ist. Ödipus – und damit der Mensch – ist sich selbst ein Rätsel. Er begibt sich auf eine geradezu kriminalistische, forensische Suche nach sich selbst. Das Ergebnis ist eine Katastrophe, die die Gesellschaft erschüttert. Ödipus, der Mörder seines Vaters, der ohne es zu wissen, in einer Inzestehe mit seiner eigenen Mutter lebt, blendet sich schließlich selbst. Vielleicht um künftig besser zu sehen? Das erzählen wir in einem sprach- und bildgewaltigen, faszinierenden Maskenspiel.
Hat der Rechtsruck in Deutschland das Theater verändert?
Natürlich nicht. Das wäre ja noch schöner, wenn die Rechten die Theater verändern würden. Aber die Theater reagieren mit ihren Möglichkeiten von Kunst und Diskurs sehr vielfältig auf die Entwicklung. Wir entwickeln zum Beispiel eine Reihe über Antisemitismus in der kommenden Spielzeit. In der vergangenen Spielzeit haben wir kurzfristig mit einer Lesung der AFD-Recherchen von Correctiv und einem Expertengespräch auf die Enthüllungen von Potsdam reagiert. Im Rahmen von „Geheimnis 1“ werden wir eine Diskursreihe eröffnen: „Parole Transparenz“, die von Ralph Hammerthaler, Autor und einst Journalist bei der Süddeutschen, kuratiert und moderiert wird. Auch da wird die neue Rechte eine Rolle spielen, die ja sehr souverän mit digitaler Manipulation arbeitet. Der erste Gast ist Johannes Caspar, der den Beirat zu Transparency International in Deutschland leitet und u.a. das Buch „Wir Datensklaven“ geschrieben hat, wo es darum geht, wie abhängig wir von den digitalen Datenströmen sind, ohne es zu merken. Es wird im Herbst auf jeden Fall auch jemand von Correctiv kommen. Aber irgendwie schwingt das natürlich auch immer in den Projekten von „Geheimnis“ mit. Im Februar 2025 bei „Geheimnis 2“ – so viel kann ich verraten – wird es u.a. eine Beschäftigung mit Pasolini und Kafka geben. Da liegt die Verbindung auf der Hand.
Bock habt ihr also immer noch, wenn ich an das zweite Stück bei „Geheimnis 1“ denke?
Zunächst mal haben wir alle zusammen, das ganze Haus, unglaublichen „Bock“ und viel Freude, an dieser komplexeren, anderen Art, Theater zu denken und zu machen. Das Publikum hat uns die offenbar im Theater spürbare Leidenschaft während der vergangenen Spielzeit häufig gespiegelt. Das sehr geheimnisvolle Projekt „Bock“ erforscht und „enthüllt“ spielerisch das häufig schambesetzte, kaum besprochene, sehr intime, scheinbar „private“ Thema der männlichen Sexualität, was letztlich auch ein politisches Thema ist. In Zeiten, wo wieder offensichtlich testosteron-gesteuerte Typen die Welt zerstören, tritt das überdeutlich zu Tage. Also reden wir über Männer und Sex. Katharina Stoll von Glossy Pain, die sich in vielen Arbeiten mit Feminismus und Gender-Fragen auf sehr witzige, zuweilen selbstironische Weise auseinandergesetzt hat – bei uns hat sie eine sehr eigene, spielerische „Woyzeck“-Version konsequent aus der Perspektive des weiblichen Opfers entwickelt – knöpft sich diesmal die Männer vor. Das wird sicher ein sehr humorvoller, schräger Blick auf das eigentlich „verklemmte“ Geschlecht.
Ich musste bei dem Stück „Bock“ sofort an Wilhelm Reich denken.
Das ist so nicht gedacht, aber ja, verstehe ich, wenn du auf „Die Reden an den kleinen Mann“ anspielst. Die Auswahl des Stoffs kam auch aus der Erfahrung, dass wir bei „Rausch“ in der letzten Spielzeit gemerkt haben, dass es gut ist, klassischere Formen mit ganz anderen Formaten zu kontern, um Menschen ins Theater zu locken, die sonst nicht kommen und denken, das ist so ein Hochkulturtempel.
Hat das „Geheimnis 1“ deshalb die Form eines Theaterfestivals?
Nein, das würde ich nicht so nennen. Es ist der Versuch, Gesamt-Dramaturgien zu erfinden, die über einen gewöhnlichen Theaterbesuch hinausreichen und das Theater wieder zum kollektiven Ereignisort machen: überfordernd, unterhaltsam, multiperspektivisch. Wir versuchen, Menschen tiefer mit einem Thema zu berühren, zu verwickeln. Da wir uns selber tiefer verwickeln und in der Beschäftigung ständig dazu lernen, wird die Auseinandersetzung spürbarer. Lernen macht zudem bescheiden und nahbar. Wir versuchen mit Partys, Konzerten, Diskursen und Workshops das Thema weiter zu umspielen und zu vertiefen. Und weil das alles aus dem Haus heraus, aus der Beschäftigung aller entsteht, ist es weit mehr als ein kuratiertes Festival.
Aber das Rahmenprogramm scheint wichtig zu sein.
Das ist sehr, sehr wichtig. Das entspringt ja aus unserer ganzen Beschäftigung, wie z.B. das Kunst-Programm „Curiosity didn‘t kill the cat“ (übers.: „Neugier hat die Katze nicht getötet“, Anm. d. Red.) von Studierenden der Kunsthochschule für Medien Köln, die u.a. bei Prof. Mischa Kuball – Lehrstuhl für Kunst im öffentlichen Raum – studieren. Der gemeinsame Prozess mit den Beteiligten ging über viele Monate. Es arbeiten Studierende, aber auch Postgraduierte aus aller Welt zu dem Thema „Geheimnis“, für den Ort Theater an der Ruhr, für drinnen und draußen. Das reicht von VR-Arbeiten über Installationen bis zu Performances. Die sind dann immer zu sehen, wenn wir spielen. Nicht alles, denn es gibt einige performative Arbeiten, die nicht jederzeit gezeigt werden können. Also nicht verpassen!
Geheimnis 1 | 23.8. - 14. 9. | Theater an der Ruhr, Mülheim a.d. Ruhr | 0208 599 01 88
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