engels: Frau Mahlow, was ist so toll am Verlernen von einst Gelerntem?
Anne Mahlow: Beim Favoriten Festival wollen wir uns mit dem Verlernen alter Muster auseinandersetzen und nach Vorannahmen suchen, die wir vielleicht nicht mehr bewusst wahrnehmen, befragen und überprüfen. Während der Pandemie haben sich viele ein „Zurück zur Normalität“ gewünscht. Doch ist es nicht gerade diese „Normalität“, deren Risse und Probleme in der Pandemie wie unter einem Brennglas sichtbar wurden? In aktivistischen Kontexten wurde damals der Slogan laut „There's no return to normal because normal was the problem in the first place“ – dieser wurde für uns wegweisend für die Festivalausrichtung. Wir wollen mit künstlerischen Mitteln vor allem Vorstellungen von Normalität befragen und intersektionale gesellschaftliche Probleme herausstellen, zu denen es kein Zurück geben soll. Doch dafür ist eine Bestandsaufnahme dieser Normalität bzw. dieser Normalitäten notwendig, mit der Frage: Was glauben wir zu wissen und was gilt es zu (ver)lernen, um gemeinsam eine solidarische Zukunft zu gestalten?
Für wen ist das Festival da?
Das Festival ist für alle offen. Wir wollen allen Menschen den Besuch ermöglichen – auch unabhängig von beispielsweise ökonomischen Abhängigkeiten. So führen wir in diesem Jahr ein solidarisches Preissystem ein, bei dem das Publikum selbst entscheiden kann, wieviel es für den Festivalbesuch bezahlen möchte und kann. Im Zentrum steht für uns die Frage nach Austausch und Dialog. Deshalb wollen wir unterschiedlichsten Perspektiven einen Raum geben. Eine Programmlinie nennt sich (Un)Learning Perspectives, also (Ver)lernen von Perspektiven. Sie gibt Personen einen Raum, die nicht unbedingt aus dem künstlerischen Bereich kommen, sondern beispielsweise aus der Pflege. Ihrem Wissen sowie ihren Erfahrungen wird hier eine Bühne gegeben. Dabei entsteht ein vielfältiges, sich beständig erweiterndes Videoarchiv: das Glossar des (Ver)lernens, zu finden schon vor Festivalbeginn auf unserer Website.
Welche Themen brennen der Freien Szene unter den Nägeln?
Meine Kolleginnen Sina-Marie Schneller, Margo Zālīte und ich haben in den letzten 12 Monaten über 500 Arbeiten der Freien Szene gesehen und es lassen sich unterschiedliche Tendenzen erkennen. Es gibt viele Künstler:innen, die sich mit Fragilität auseinandergesetzt haben und fragen, was die Pandemie, was Isolation mit einem macht und was es bedeutet, nicht mehr im Dialog zu sein. Es gibt viele Arbeiten, die sich auf unterschiedlichsten Ebenen mit dem Thema Begegnung auseinandersetzen und fragen, wie man sich wieder treffen, sich austauschen, miteinander reden kann. Es gibt einige queer-feministische Produktionen, die sich mit unterschiedlichen Körper- und Genderbildern und Sexualität beschäftigen. Andere stellen die Fragen: Was gehört archiviert, was gehört in den Kanon, inwiefern kann etwas überschrieben werden und wie hängt alles mit Privilegien zusammen. Außerdem wird das Thema Klima in den Fokus gerückt, wobei aus wissenschaftlicher, aktivistischer und persönlicher Perspektive verhandelt wird, wie man sich gesellschaftlich engagieren und verhalten kann. Es ergeben sich also fünf große Schwerpunkte, die wir allerdings nicht explizit gesetzt oder gesucht haben. Diese können natürlich nicht die Komplexität der einzelnen Arbeiten erfassen, sie helfen lediglich, eine Orientierung zu geben, weil das Programm mit 27 Produktionen sehr umfangreich ist. Die Schwerpunkte sind Queer-Feminismus und Körper, Fragilität, Begegnung und Pandemie, Kanon-Überschreibung und Privilegien sowie Klima und Zukunft.
Die digitalen Formate nehmen zu. Liegt das auch am erzwungenen Homeoffice der Performance-Künstler:innen?
Die digitalen Formate haben seit der Pandemie natürlich eine größere Präsenz, aber es gab auch schon lange vor der Pandemie viele Künstler:innen im digitalen Feld. Während der Pandemie wurde die Entwicklung digitaler Formate verstärkt gefördert, sodass mehr Projekte entstanden sind. Das hängt damit zusammen, dass es in den Theatern schwer möglich war, überhaupt zu produzieren bzw. vor Publikum zu spielen. Wir betrachten die Bühne weiterhin als wichtigen Versammlungs- und Diskursraum und gleichzeitig wollen wir das Digitale in der Kunst, was durch die Pandemie eine besondere Relevanz erfahren hat, nicht als Defizit betrachten, es nicht nur als Hilfsmittel sehen, sondern weiterhin lustvoll erforschen. Mit dem Programm (Un)Learning Distances haben wir ein Residenzformat mit fünf verschiedenen Teams aufgegleist. Jeweils eine künstlerische Position aus NRW kommt zusammen mit einer künstlerischen Position aus einem anderen Teil der Welt. Siebzehn Resident*innen in fünf Teams von vier Kontinenten und neun Ländern arbeiten im digitalen Raum zusammen und lernen sich dort kennen. Das ortsungebundene Arbeiten hat gerade während der Pandemie insbesondere internationales Arbeiten ermöglicht. Im Zuge des (Ver)Lernens ist uns das Von- und Miteinander-Lernen auf globaler Ebene und der Einbezug unterschiedlichster Perspektiven wichtig. Zudem wird das Favoriten Festival 2022 erstmals hybrid stattfinden und in einem Online-Showcase zahlreiche digitale Arbeiten aus NRW und dem bundesweiten Kontext zeigen.
Es lebt die Spekulation – viele der Produktionen, die ich im Programm gesehen habe, gehen um Zukünftiges. Hat die Fake-Fiction die Science heute längst überholt?
Hier ist wichtig, in welchem Kontext Sie diese Frage stellen. In Bezug auf die Pandemie würde ich immer der wissenschaftlichen Perspektive vertrauen. Aber das Theater ist ja ein Ort, der es ermöglicht, verschiedenste Erzählungen zuzulassen, etwas zu erfinden, ohne dabei wissenschaftlich sein zu müssen – da finde ich das Wort Fabulation ganz passend. Fabulieren, was möglich sein könnte, Utopien entwickeln, verschiedene Sichtweisen zeigen und mit Ideen spielen. Das Theater hat aber auch das Potential ein Raum zu sein, wo Utopien und Wissenschaft zusammenkommen, in dem Neues hervorgebracht und mögliche Zukunftsentwürfe erprobt werden können.
Favoriten Festival | 15.-25.9. | Div. Orte in Dortmund | 0231 58 06 61 18
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